Sancta Benedicta - Kapitel 1 Einleitung - Ingrid Gardill

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Sancta Benedicta - Kapitel 1 Einleitung

Gegenstand und Ziel dieser Untersuchung

Die Vie de Sainte Benoîte ist eine reich illustrierte Pergamenthandschrift, die von der Nonne Heluis de Conflans des nordostfranzösischen Benediktinerinnen-Klosters Sainte-Benoîte in Origny im Jahr 1312 in Auftrag gegeben wurde. Die Handschrift wird heute im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur 78 B 16 aufbewahrt. Sie umfaßt einen Bilderzyklus von 54 Seiten zum Leben und zur Verehrung der heiligen Benedicta, deren Reliquien sich seit dem 9. Jahrhundert im Besitz der des Konventes befanden. Weitere 652 Textseiten berichten über die Geschichte des Klosters, beinhalten liturgische Texte und verschiedene Versionen der Benedictalegende sowie Vorschriften und Gebräuche an besonderen Feiertagen im Kloster als Anweisung für die Schatzmeisterin, die explizit genannt wird. Auch die im liturgischen Ablauf des Jahres verankerten Aufgaben des benachbarten Kanonikerstiftes Saint-Vaast, das den Nonnen unterstellt war und diese seelsorgerisch betreute, sind dort festgelegt. Im folgenden wird diese Handschrift "Berliner Handschrift" oder "Berliner Codex" genannt.

Benedicta wird dort als frühchristliche Missionarin und Märtyrerin dargestellt: Aus römischem Senatorenadel stammend, begibt sie sich Anfang des 4. Jahrhunderts, begleitet von zwölf Jungfrauen von Rom nach Gallien. Dort angekommen trennen sich die Frauen, um in kleinen Gruppen im Norden des Landes das Christentum zu verkünden. Benedicta geht zusammen mit einer Begleiterin zuerst nach Laon, wo sie böse Geister aus der Stadt vertreibt, Götzenbilder stürzt, predigt und tauft. Dann ziehen beide Frauen weiter nach Origny, dessen Einwohner sie gleichermaßen bekehren, bis Benedicta schließlich vor den heidnischen Statthalter Matroclus geführt wird. Dieser läßt sie nach Verhören und Folterungen in einen Kerker werfen, wo Engel ihre Wunden heilen und sie befreien. Anschließend wiederholt sich mehrfach die gleiche Abfolge. Nachdem Matroclus Benedicta mit der Folter nicht bezwingen kann, erschlägt er sie eigenhändig mit dem Beil. Die Heilige wird heimlich begraben und erst nach 300 Jahren von einem Blinden aus Paris, der eine nächtliche Vision hat, wieder aufgefunden. Gleichzeitig kommen auch 18 Bischöfe an jenen Ort, die den Leichnam feierlich in eine von Kanonikern betreute Kirche in Origny übertragen. Später werden jene Kanoniker von Benediktinerinnen abgelöst, im 9. Jahrhundert schließlich ist der Leichnam der Heiligen bei einer Schreinöffnung immer noch unversehrt. Im Schlußbild der Miniaturenfolge bittet die vor dem Benedicta-Altar kniende Stifterin der Handschrift und Nonne des Klosters, das mittlerweile nach seiner Patronin in "Sainte-Benoîte" umbenannt wurde, um Fürsprache vor Gott.

Die Berliner Handschrift zählt zu den selten erhaltenen Zeugnissen aus Frauenklöstern, die eindeutig für diese hergestellt wurden. Die Auftraggeberin wird dort mehrfach erwähnt. Daher bot es sich an, die Handschrift nach ihren Besonderheiten zu befragen: Um welche Handschriftengattung handelt es sich bei diesem kostbaren Codex? Welche Texte enthält er und welche Rückschlüsse können auf seinen Gebrauch gezogen werden? Warum ist der Bilderzyklus nicht textbegleitend, sondern gleich zu Beginn der Handschrift als kompakte, ganzseitige Bilderfolge nach dem "Diptychon-System"[1] mit umlaufenden Tituli angelegt? Wo und warum weicht die Bilderfolge von den kanonischen Vitentexten ab? Welcher Ikonographie entspricht die Darstellung Benedictas und welche Rolle spielt ihre Begleiterin? Wie ist die Stellung des Buchmalerei-Ateliers zu bewerten, das den Auftrag zur Ausmalung der Handschrift erhalten hat? Gibt es innerhalb der Berliner Handschrift formale Bildstrategien, die auf bestimmte Interessen der Stifterin und ihres Konvents schließen lassen?

Die Suche nach Antworten machte auch die Erforschung des Status des Klosters erforderlich. So sind die Geschichte des Klosters, seine Struktur und Ordenszugehörigkeit darzulegen. Die Methode der Untersuchung geht dementsprechend über die stilkritische oder ikonographische Analyse des Bilderzyklus hinaus, hin zu einer Erfassung sowohl der gesamten Handschrift mit ihren Bildern, Texten und jüngeren Ergänzungen als auch des historischen Kontextes ihrer Entstehung. Damit ist es möglich, Überlegungen zum Hintergrund des Auftrages und zur Benutzung des Codex anzustellen. Im ersten Teil der Arbeit werden, neben Informationen zur Gattung der Berliner Handschrift und der Präsentation der Auftraggeberin, vorwiegend die historischen Hintergründe des Klosters und die Gewohnheiten des Konvents beleuchtet. Als Quellen dienen in erster Linie der ordinariusähnliche Textteil der Berliner Handschrift und das letzte Drittel der Bilderfolge, wo Besitz und Verehrung der Benedicta-Reliquien in Kloster Sainte-Benoîte in Origny einen besonderen Stellenwert einnehmen. Erstmals wird die Benedicta-Legende in ihren verschiedenen Versionen erfaßt, wodurch auftragsbedingte Besonderheiten innerhalb des Bilderzyklus erkennbar sind. Der zweite Komplex der Arbeit widmet sich, auf der Grundlage des ersten Teils, der Analyse und Interpretation des Bilderzyklus und Buchschmucks in der Berliner Handschrift, anschließend dem ausführenden Atelier. Zuletzt werden zusammenfassend der Stellenwert des Codex für das Nonnenkloster und die Auftragssituation reflektiert.

Forschungsgeschichte

Die Texte der Berliner Handschrift sind nicht ediert, eine Zusammenschau von Bildern und Texten liegt bisher nur in Kurzform vor[2]. Der Codex gelangte erst spät in das Blickfeld der französischen Forschung, denn er wurde seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Deutschland aufbewahrt und war ab 1841 im damaligen Königlichen Kupferstichkabinett zu Berlin der gelehrten Öffentlichkeit zugänglich.

Paul Durrieu war der erste Forscher von französischer Seite, der auf sie aufmerksam wurde. Nach seiner Reise durch Deutschland zum Studium dort aufbewahrter Handschriften erstellte er in seinem 1892 verfaßten Bericht einen Überblick über den Textcorpus[3]. Er stufte den Codex als luxuriös ein, jedoch mit – im Vergleich zur Pariser Produktion – eher einfachen Miniaturen. Durrieu gab der Handschrift die heute gebräuchliche Bezeichnung. Während sie im Inventarbuch des Kupferstichkabinetts als "Heiligthumsbuch der Abtei Origny" aufgeführt war, nannte er sie in seinem Artikel "Vie de sainte Benoîte, en images, et cérémonial de l'abbaye de Sainte-Benoîte d'Origny, au diocèse de Laon"[4]. Olschki nahm die Handschrift 1932 noch in seinem Katalog über in Deutschland aufbewahrte französische Bilderhandschriften auf, danach war sie durch kriegsbedingte Auslagerung bis 1956 für die Forschung unzugänglich[5]. Das Interesse der Lokalhistoriker war abgedeckt durch eine gut zugängliche, in der Bibliothèque municipale in Saint-Quentin aufbewahrte Parallelhandschrift mit ähnlichem Textcorpus, aber ohne Illustrationen. Für die Klostergeschichte sind bis heute die darauf fußenden Arbeiten von Poissonnier grundlegend [6].

Im Bereich der Kunstgeschichte war es Georg Graf Vitzthum, der sich in seinem Werk über die Pariser Miniaturmalerei, das in manchen Aspekten noch bis heute gültig ist, als erster eingehend mit den Miniaturen der Vie de Sainte Benoîte und den Zusammenhängen des Ateliers befaßte. Zwar schrieb er etwas abfällig "Wunderbar ist auch hier das Eindringen des belgischen Stiles nicht"[7], aber er analysierte die charakteristischen Stilmerkmale der Illustrationen und löste sie aus dem Zusammenhang mit der Pariser Hofkunst, an der die zeitgenössische Buchmalerei stets gemessen worden war. Paul Wescher gab im Rahmen seines Kataloges der illustrierten Handschriften im Berliner Kupferstichkabinett erstmals knapp den Inhalt jeder einzelnen Miniatur wieder, kam dabei aber teilweise zu Fehlschlüssen[8].

Kunsthistorische Würdigung erhielt die Handschrift erst wieder in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch François Avril, der die Miniaturen zweier Einzelblätter aus einem Gebetbuch stilistisch den Miniaturen der Berliner Handschrift zuordnete[9]. Alison Stones etablierte eine Stilgruppe um die Illustrationen einer Lancelot du Lac - Handschrift und erklärte die Berliner Vie de Sainte Benoite als zugehörig[10]. Seitdem wird die Berliner Handschrift häufig im Zusammenhang mit jener Lancelot-Handschrift aufgeführt[11]. In ihrem 1990 erschienenen Aufsatz stellte Stones den Maler der Berliner Miniaturen – Benoîtemeister genannt – als Werkstattoberhaupt über eine Gruppe von Handschriften, die bereits als zugehörig erkannt worden waren, ergänzte diese noch und schlug eine Chronologie vor[12]. Schließlich konnte François Avril noch die Miniaturen einer Legendenhandschrift in Turin dem Benoîtemeister zuschreiben[13].
Fragen nach Auftrag und Gebrauch des Berliner Codex hat erstmals Jeffrey Hamburger gestellt und im Rahmen seiner Untersuchung zur "cura monialium" in Frauenklöstern kurz erörtert[14]. Seitens der Theaterwissenschaften stieß das sogenannte Osterspiel von Origny auf großes Interesse. Edith A. Wright[15] publizierte eine Passage daraus, die von Robert Marichal[16] noch einmal aufgegriffen und umfassend kommentiert wurde.

Öffentlich präsentiert wurde die Handschrift bisher erst zweimal: 1958 in einer kleinen Ausstellung im Kupferstichkabinett des damaligen West-Berlin[17] und 1994 in einer Schau der wiedervereinigten Berliner Bestände[18]. Im Jahr 2005, kurz nach Erscheinen dieser Arbeit, wird sie im Rahmen einer umfangreichen Ausstellung zur Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern gezeigt werden[19].
 
 
[1] Zwei Seiten stehen einander gegenüber, dann folgen zwei Leerseiten. Vgl. die Abbildung des aufgeschlagenen Buches auf S. 106.
[2] Gardill 2004 (Rezension von Wolfgang Maaz in: Mittellateinisches Jahrbuch 39 [2004] S. 468 f.).
[3] Durrieu 1892 S. 122-124.
[4] Durrieu 1892 S. 122.
[5] Olschki 1932 Nr. 42 S. 37. Zum vergeblichen Bemühen Marichals, 1950 einen Microfilm der noch immer ausgelagerteh Handschrift zu erwerben vgl. S. 25 Anm. 42.
[6] Poissonnier 1868 und ders. 1869/70.
[7] Vitzthum 1907 S. 149.
[8] Wescher 1931 S. 34-36.
[9] Ausst. Kat. Wien 1978 S. 78.
[10] Stones 1971 S. 258 ff.
[11] Zuletzt im Ausst. Kat. Paris 1998 Kat. Nr. 204 S. 303.
[12] Stones 1990.
[13] Wie Anm. 11.
[14] Hamburger 1992 S.118-119.
[15] Edith A. Wright: The Dissemination of the Liturgical Drama in France. Bryn Mawr (PA) 1936 (Nachdruck Genf 1980) S. 184-186.
[16] Marichal 1950 S. 37-45.
[17] Den Text zur Ausstellung, der als fünfseitiges Faltblatt gedruckt wurde, hat Peter Bloch verfaßt. Ders.: Miniaturen aus sechs Jahrhunderten. Einzelblätter und Handschriften vom 11. bis 16. Jahrhundert. Berlin 1958.
[18] Frauke Steenbock: Vie de Sainte Benoîte d'Origny. In: Ausst. Kat. Berlin 1994 Kat. Nr. 1.3. S. 49-50.
[19] Ingrid Gardill: La Vie de Sainte Benoîte. In: Ausst. Kat. Bonn/Essen 2005 (im Druck).
 
 
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